Am 5. Dezember 2020 feiere ich mein zehnjähriges Läuferleben. Da ich aufgrund der Coronakrise aber wohl keine läuferischen Glanztaten mehr vollbringen werde, feiere ich mich einfach schon jetzt und blicke darauf zurück, wie ich mir durch das Laufen neue Welten erschlossen habe.
Es ist ein kühler Tag im Herbst. Ich laufe. Meine Strecke liegt zwischen Dortmund-Löttringhausen und -Kirchhörde. „Relax“ von Frankie goes to Hollywood wummert in meinen Ohren. Offenbar bin ich immer schon mit Musik gelaufen. Der Walkman, den ich mit einer Klemme am Bund meiner Jogginghose befestigt habe, wackelt hin und her und zieht die Hose nach unten, sodass ich den Sitz derselben ständig — oder: laufend — korrigieren muss.
Ich laufe nicht, ich jogge
Es ist 1983 und ich laufe eigentlich gar nicht, sondern jogge, so heißt das nämlich damals. Ich spüre brennende Lungen, ohne dass ein Asthma-Anfall dafür verantwortlich ist. Ein seltsames Gefühl.
Ich erinnere mich an den schwarzen Nike-Jogginganzug und meine Alltags-Laufschuhe von Adidas. Schon damals trage ich gerne Laufschuhe, auch wenn ich es nicht so mit dem Laufen habe. Meistens haben die sauteuren Treter ein Loch im Zehenbereich vom Kicken mit einem Tennisball auf dem Schulhof.
Mein einziger Lauf, ein besonderer Lauf
Warum ich mich noch heute, mehr als 30 Jahre später, daran erinnern kann? Weil dieser Lauf etwas Besonderes war. Weil es mein einziger Lauf war oder einer von ein paar einzigen Läufen.
Den nächsten ernsthaften Versuch wähne ich so ungefähr drei bis fünf Jahre später. Ein paar Wochen lang schaffe ich es, mich sonntags früh aus dem Bett zu hieven, mit dem Fahrrad zur Gesamtschule Duisburg-Süd zu fahren und dann eine der verhassten Runden um den benachbarten Golfplatz zu joggen.
Verhasst ist diese Runde, weil sie die Todesrunde aus dem Sportunterricht ist. Wir lernten damals, dass Laufen gelebter Darwinismus ist. Wer die drei Kilometer um den Golfplatz in Zeit x schafft, ist super. Der Rest hat verloren.
Ich habe immer verloren.
Nie gelernt, wie laufen geht
Keine(r) meiner Sportlehrer(innen) hatte es je für nötig gehalten, uns den Unterschied zwischen laufen und rennen zu erklären. Danke, Frau Müller. Danke, Herr Schmitt und Herr Ferber. Und wenn sie es doch je getan haben sollten, dann so, dass ich es nicht verstanden habe. Oder sie mahnten uns, langsam zu laufen — das Lob heimsten aber dennoch die Schnellen ein. Vorne waren drei, vier Super-Typen, hinten die Loser. Kein Fairplay, kein Sportsgeist, nur Todeskampf auf Waldboden. Und das auf einer Gesamtschule.
Auch die neuen Versuche scheitern. Ich gebe zu, dass ich es selbst bin, der mir im Weg steht. Ich bin faul. Das bin ich heute noch, aber heute bin ich ein fauler Läufer, früher war ich einfach nur faul. Das ist ein großer Unterschied, denn das Laufen verschiebt die Bedeutung von Begriffen wie „Faulheit“ oder „Bequemlichkeit“ beträchtlich.
Anfang der Neunziger drei, vier, fünf Anläufe, dann wieder Ende. Zu anstrengend, zu früh, zu wenig Zeit. Nullerjahre, Winter. Dasselbe Spiel.
Jedes Mal spüre ich, wie gut mir die Lauferei tut, und jedes Mal schaffe ich es nicht, den inneren Schweinehund dauerhaft zu besiegen.
Die Midlife-Crisis macht mich zum Läufer
Das ändert sich am 5. Dezember 2010. Die Midlife-Crisis klopft an die Tür. Ich lasse sie herein. „Lass uns laufen gehen“, werde ich aufgefordert. „Kann ich nicht“, sage ich. „Immer wieder versucht, immer wieder aufgehört“, klage ich. Knapp 95 Kilo wiege ich und beschließe, dass sich das ändern muss.
Jeder Lauf wird von der App Endomondo automatisch auf Facebook gepostet. Das nervt viele meiner Freunde, doch ich lese und höre noch etwas Anderes: Respekt. Hätte es 1985 schon die soziale Kontrolle über Facebook und Running-Apps gegeben, die Vielzahl an Möglichkeiten, sich über das Training zu informieren — es tut richtig weh, darüber nachzudenken. Ich glaube, ich hätte das gekonnt. Nicht schnell, aber weit. Ich hätte Marathonläufer werden können zu einer Zeit, als das noch vollverrückte Fanatiker waren.
Viele neue Welten entdeckt
Jetzt ist 2020. Ich blicke auf zehn (okay, eher neuneinhalb) Jahre und zwölf bis 15 Kilo zurück. Unbedeutend für die Menschheit allesamt, aber Riesensprünge für mich. Ich bin zwei Runden am Stück durch den Rombergpark gelaufen, 42,195 Kilometer durch Duisburg, Paris, Köln, Hamburg und am Stilfserjoch sowie 78 Kilometer durch Arizona.
Ich habe durch das Laufen neue Welten entdeckt.
1. Neue Schmerzen, neuer Stolz
„Pain and suffering in various tempos“, beschrieben Depeche Mode ihr Album „Playing the angel“. Ich könnte diesen Spruch über jedes Intervall-Training und jeden Wettkampf schreiben.
Aber: „Pain is so close to pleasure“, singen Queen auf „A kind of magic“. Und wenn ich meine Intervalle ballere oder Marathons an irgendwelchen Bergen laufe, denke ich oft an die Zeile von Depeche Mode und korrigiere mich dann, indem ich im Kopf den Queen-Song singe.
Das Geschwisterchen des Schmerzes ist der Stolz. Wer in einem kreativen Beruf arbeitet, hat immer mal wieder Grund, solz zu sein. Sei es auf ein Werkstück, ein Foto oder einen Text. Dieser Moment, wenn du „Fertig!“ sagst, stolz dein Werk betrachtest und weißt, wieviel Arbeit du investiert hast, ist unglaublich süß. Süß und selten. Denn oft hat man im Job einfach keinen Grund, stolz zu sein. Du arbeitest dein Zeug weg, alles ziemlich unglamourös.
Beim Laufen ist das anders. Ich habe mir angewöhnt, nach jedem Lauf und jedem Training, stolz zu sein, selbst wenn ich mich beschissen gefühlt oder ein Vorhaben verfehlt habe — dann bin ich eben stolz darauf, dass ich es durchgezogen habe, obwohl ich schlecht drauf war. Das motiviert und verleiht selbst einem ereignislosen Arbeitstag einen besonderen Abschluss.
2. Neues (Körper-)Bewusstsein
Seit ich laufe, habe ich ein anderes Verhältnis zu meinem Körper. Ich spüre Veränderung am eigenen Leib, aber auch im Kopf. Ich bekomme mit, wie der Körper auf Reize reagiert. Wenn du etwas Theorie büffelst und dich an das Thema „Stoffwechsel“ aus dem Bio-LK erinnerst, bekommst du ein Gespür für physiologische Prozesse. Du weißt, welche Reize du setzen musst, um bestimmte Ziele zu erreichen. Alles fügt sich zu (bio)logischen Zusammenhängen.
Du lernst, wie Training funktioniert und wirkt. Du lernst deine Pulsbereiche kennen und kannst deine Belastung steuern. Du kannst Dinge, die du für unmöglich gehalten hast. Ausdauer, Geschwindigkeit und Kraft sind jetzt mehr als platte Schlagworte, sondern täglich spürbar.
Die unschönen Lektionen der Körperschule sind Verletzungen, etwa meine beiden Muskelfaserrisse. Verletzungen schulen das Körpergefühl und geben dir zu verstehen, dass du etwas falsch machst. Oder dass du Pech hattest und jetzt warten musst — auch das will gelernt sein.
3. Neuer Blick aufs Wesentliche
„Musik ist Kunst in der Zeit“, habe ich mal von einer Kulturredakteurin gelernt. Ich liebe diesen Spruch. Ein Pianist kann einen Verspieler ebenso wenig ausmerzen wie er eine besonders gelungene Passage zu einhundert Prozent wieder genauso hinbekommen wird, und sei es nur, weil der Raum ein Grad wärmer und das Empfinden des Publikums dadurch anders ist.
Beim Laufen ist jeder Schritt singulär. Fehler lassen sich kaum korrigieren. Es gibt keinen zweiten Versuch. Das weiß jeder Marathonläufer, der sich über eine tolle Halbmarathon-Zeit freut und ab Kilometer 32 mit Schmerzen teuer dafür bezahlen muss, dass er am Anfang so schnell war. Du kannst bei Kilometer 33 nicht einfach zu Kilometer Sechs zurückrennen und die Passage, auf der du zu schnell warst, nochmal langsamer laufen. Und verbummelte Minuten kannst du ebenfalls nicht wieder einsammeln.
Beim Laufen musst du dir ständig im Klaren über den Moment und seine Bedeutung für den weiteren Rennverlauf sein. Es zählt nicht, was war. Wichtig ist, was ist und was kommt. Du läufst vorwärts, also denke nicht rückwärts.
Im Training hadere ich allerdings oft mit den Kilometern, die noch vor mir liegen. Lange Läufe in der Marathon-Vorbereitung können unfassbar öde sein und werden noch öder, wenn du bei Kilometer 15 an die 20 denkst, die noch vor dir liegen. Aber jeder Schritt bringt dich einen Meter weiter. Denk an jetzt und an dein großes Ziel in zwei Monaten.
4. Neuer Ehrgeiz, neuer Realismus
Laufen ist ein Zahlen-Sport und als solcher ziemlich berechenbar und recht arm an Überraschungen. Sogar für mich, obwohl ich kein Mathe kann. Wenn du eine Leistungs-Diagnostik gemacht und einen Trainingsplan erfüllt hast, weißt du ziemlich genau, welche Zeit du mit hoher Wahrscheinlichkeit beim Marathon laufen wirst. Schlechter geht immer, besser eher nicht.
Das klingt langweilig, ist aber dennoch eine große Herausforderung. Ehrgeiz gehört durchaus dazu, denn ohne den Willen, deine bestmögliche Leistung abzurufen, wirst du scheitern. Bei meinen Leistungsdiagnostiken kommt immer eine Marathon-Zielzeit von 3:45 Stunden heraus. Meine Bestzeit liegt bei 3:49 Stunden. Denn auch für die 3:45 Stunden, die der Computer da als realistische Finish-Zeit ausgespuckt hat, muss ich ja erst mal trainieren und sie anschließend auch noch laufen. Mit meinen eigenen Beinen und meinem eigenen Kopf, und Letzterer ist meist das größere Problem.
Das Korrektiv des Ehrgeiz‘ ist der Realismus. Es hilft dir nicht, 3:15 Stunden laufen zu wollen, wenn du es nicht kannst. Wenn du es können willst, musst du dafür trainieren. Und wenn du 40 Jahre alt bist, 90 Kilo wiegst, gerne isst, einen Vollzeitjob hast und bei der Laufband-Analyse 4:15 Stunden als Prognose herauskommen, darfst du natürlich von einer 2:15 träumen, solltest aber wissen, dass du die höchstwahrscheinlich nicht durch Training, sondern nur durch Wiedergeburt in einem sportlicheren Körper erreichen wirst.
Ohne diesen Realismus setzt du dir falsche Ziele. Falsche Ziele führen zu Enttäuschungen, übertriebener Ehrgeiz zu Verletzungen. Klug gewählte Ziele können hingegen unglaublich motivierend sein. Vergleiche dich dabei nie mit anderen — deine Ziele sind deine Ziele, die du aber ganz ohne Ehrgeiz auch nie erreichen wirst.
5. Neue Prioritäten
Ich fand diese gekünstelt-hochtrabend klingenden Geschichten immer furchtbar: „Wie das Laufen mein Leben verändert hat“ und ähnliche Bla-bla-Überschriften mag ich überhaupt nicht. Die sind mir viel zu esoterisch.
Wir haben schließlich nur ein Leben, und folglich ändert alles, was wir (nicht) tun, unser Leben oder unsere Persönlichkeit. Aber natürlich habe ich mich geändert. Ich bin viel gelassener geworden und ertrage Stress und Streit oft mit Gleichmut. Ich bin disziplinierter, beharrlicher, ehrgeiziger, geduldiger, eher in der Lage, Dinge nacheinander abzuarbeiten. Aber auch egoistischer. Und natürlich färben viele dieser neuen Eigenschaften positiv auf den Alltag ab. Seit ich laufe, sind mir so unfassbar viele Dinge egal. Das tut so gut.
Die Prioritäten haben sich verschoben. Niemals hätte ich es früher für möglich gehalten, dass ich schon im Frühjahr ein Wochenende im Oktober verplane, ohne zu wissen, ob da der BVB ein Heimspiel hat. Oder gar ein Heimspiel zu schwänzen, weil das Training am Samstagvormittag so hart war.
Es ist toll, Nektar aus eigenen Leistungen ziehen zu können und mental nicht mehr so abhängig von den Leistungen überbezahlter Fußballprofis zu sein. Denen gegenüber bin ich viel kritischer und unfairer geworden, weil ich mir ja jetzt einbilde, auch Leistungssportler zu sein.
Ich habe viele wichtige Lehren aus der Lauferei gezogen. Allen voran die, dass Training wirkt, aber dauert. Dass sich das beharrliche, zielgerichtete Streben nach einem realistischen Ziel lohnt. Und dass der Preis dafür ist, mal einer Currywurst und einem Bier aus dem Weg zu gehen. Ich weiß, dass unrealistische Ziele Menschen körperlich und mental kaputt machen. Und wenn mir im „echten“ Leben jemand begegnet, der das nicht weiß, habe ich wirklich ein Problem.
6. Neue Mentalität, neue Gelassenheit
So stolz ich auf erreichte Ziele bin, weiß ich doch, dass ich ein sportlicher Niemand bin. Ich werde nie gewinnen oder auf dem Treppchen stehen. Und trotzdem lohnt sich der Ehrgeiz. Ich laufe gegen Gegner, mit denen ich es aufnehmen kann, also gegen mich und die Uhr.
Ziele kann ich im Wettkampf korrigieren. Wenn’s nicht geht, geht es nicht. Das hat nichts mit Weicheitum oder fehlendem Kampfgeist zu tun, sondern mit der Weigerung, mir das Erlebnis vermiesen zu lassen. Denn: Ja, mir ist der Lauf wahnsinnig wichtig, aber objektiv gesehen, ist er eine absolute Nebensache. Ja, ich will das Bestmögliche erreichen, ein Ziel erreichen, meine Top-Leistung abrufen — aber nichts, absolut nichts, wird sich ändern, wenn ich einfach nur mein Bestes gebe, mein Ziel aber dennoch nicht erreiche.
Ich habe früher Wettkämpfe gehasst, weil mir nie egal war, dass ich verlieren könnte. Beim Laufen definiere ich für mich, was ein Sieg, was eine Niederlage und was ein akzeptables Ergebnis ist. Ich habe mir ein Mindset zugelegt, um ein Rennen im Rahmen der Möglichkeiten doch noch irgendwie zu einem Erfolg zu machen, wenn ich anschließend guten Gewissens sagen kann, dass ich die unter den jeweiligen Umständen bestmögliche Leistung abgerufen habe.
Als Läufer bin ich ein Niemand. Das habe ich oben geschrieben. Das sagt man doch, wenn man sagen will, dass man irgendwo im Mittelfeld der Masse unterwegs ist. Das ist aber falsch. Wenn du niemand bist, hörst du auf zu existieren. Niemand ist niemand, jeder ist jemand. Volksläufe heißen auch „Jedermann-Rennen“, nicht „Niemand-Rennen“. Ich bin nicht niemand, ich bin jeder.
3 Antworten auf „Zehn Jahre Läufer: Neue Wege, neue Welten“