Der Bottroper Herbstwaldlauf ist einer der schönsten Läufe in NRW. Der Start im Schatten des Förderturms und die Strecke im herbstlich-bunten Wald bilden ein tolles Erlebnis. Wenn da nicht das Laufen wäre. Meine Ultra-Premiere wurde eine körperliche und mentale Quälerei. Motivation erhielt ich aus Paris.
Wenn mir vor einem Jahr jemand gesagt hätte, dass ich mal einen Marathon als Vorbereitungslauf auf einen Ultra laufen würde und dass dieser Ultra wiederum ein Vorbereitungslauf auf einen noch längeren Ultra sein würde – ich hätte vor lauter lachen gar nicht mehr laufen können.
Beim Bottroper Herbstwaldlauf 2019 bin ich meinen ersten Ultra gelaufen, 50 Kilometer. Als Vorbereitung auf den Antelope Canyon Ultra. Und als Vorbereitung, Vorbelastung oder Vorspiel bin ich zwei Wochen zuvor den Rothaarsteig-Marathon gelaufen. Ich weiß auch nicht, was mit mir nicht stimmt.
50 Kilometer in Bottrop: Wenn das Ziel nur der Start ist
Zweifel an meiner Zurechnungsfähigkeit müssen auch meine Mitläufer hegen – allen voran mein Trainer Helmut von Lauffieber Dortmund. Vor ein paar Minuten habe ich mich verabschiedet, nachdem ich zuvor verkündet habe, gleich aus dem Rennen auszusteigen. Der Gedanke an das baldige Ende hat mir einen Schub gegeben und so rennen meine Beine jetzt mit ungekannter Leichtigkeit in Richtung Ziel. Wobei das Ziel gleichzeitig auch der Start sein sollte – zur zweiten Runde auf dem 25-Kilometer-Rundkurs des Bottroper Herbstwaldlaufs. Aber ich will ja raus.
Mir geht alles nur auf den Sack. Nachdem es ganz fluffig losging, spüre ich seit etlichen Kilometern meine Fußsohlen. Jeder Knubbel und jeder Stein frisst sich in meine Füße. Es gibt viele Steine und viele Knubbel. Ich hadere mit der Schuhwahl. Auf meinem Rücken gluckert der Trinkrucksack, den ich eigentlich nicht brauche, aber zum Testen mitführe. Irgendwie muss sich wieder Luft in die Trinkblase geschlichen haben, nachdem ich eigentlich alles ordnungsgemäß vakuumiert hatte. Das nervt.
Paris als Lichtblick und Leuchtfeuer
Kurz nach dem Start war die Mitläuferin mit dem Rucksack vom Paris-Marathon 2019 ein Lichtblick. Ich hoffte auf eine kleine Unterhaltung – sie aber offenbar nicht. Aber der kleine, blau-grüne Rucksack sollte jetzt eine Art Leuchtfeuer für mich sein. Ich taufte die unbekannte Läuferin „Paris“.
Aber ich war zu schnell. Ich wollte gemütlich mit einer Pace von 6:30 oder vielleicht sogar noch langsamer laufen. Jetzt hatte ich manchmal sogar eine 5 vorne stehen. Ich überholte Paris und wartete auf die Rache der zu schnellen Pace.
Mir wird langweilig
Doch vor der Rache kam die Langeweile. Plötzlich war sie da. Ich ärgerte mich, dass ich nicht einfach meine Ohrstöpsel eingepackt hatte, um weiter dem packenden Thriller von Karin Slaughter zu lauschen, den ich beim letzten Training begonnen hatte.
Die Langeweile wirkte als Schmerzverstärker. Ich bildete ein Grüppchen mit Helmut und einem Kumpel. Das half, die Pace zu kontrollieren und irgendwo knapp über sechs Minuten einzupendeln. Zur Motivation zum Weiterlaufen beschloss ich, auf der ersten Runde keine oder kaum Fotos zu machen, um einen Grund zu haben, Runde Zwei anzugehen.
Doch fünf Kilometer vor dem Ziel kippte in meinem Kopf dieser Schalter um und ich beschloss, dass mir Fotos scheißegal sind. Ab ins Ziel, Feierabend machen.
Orientierungslos auf die zweite Runde
Und jetzt nähere ich mich dem Zielbogen – oder Startbogen. Die Stimmung im Start-/Ziel-Bereich ist gut. Jubel, Anfeuerung. Ich stolpere orientierungslos über die Zeitmatte und suche den Ausgang. Doch die Strecke ist mit Flatterband abgesperrt. Ich gehe langsam weiter und suche ein Loch. Helmut und sein Kumpel überholen mich. Ich solle doch einfach ein Stück laufen und sehen, wie weit ich komme. „Dann muss ich ja den ganzen Scheiß wieder zurück“, antworte ich und suche einen Fluchtweg.
Aufgeben ist jetzt die einzige Option. Aber da ist Flatterband, da sind Leute. Da ist niemand, der mich abholt, weil Frau und Kinder erst gegen 15.30 Uhr kommen wollen.
Den Absprung zum Ausstieg verpasst
Ich latsche weiter und stelle irgendwann fest, dass ich den Absprung zum Ausstieg verpasst habe. Aber ich laufe nicht, ich gehe, bejammere genüsslich den Schmerz und frage mich, wo meine Mentalität hin ist. Also bewege ich mich weg vom Start und hin zum Ziel oder umgekehrt.
Viele Läufer überholen mich. Darunter auch Läuferinnen, die wie altgediente Ultra-Läuferinnen aussehen, ausgemergelt, mit einem Laufstil, der mich an allem, was ich übers Laufen gelernt habe, zweifeln lässt. Das sieht grausig aus, und ich will gar nicht wissen, wie ich gerade aussehe. Dann überholt mich eine Läuferin, die viel zu gut aussieht und stilistisch erschreckend gut unterwegs ist. „Warum kann die noch so schön laufen, während ich hier in Selbstmitleid zerfließe?“, frage ich mich. Ich hadere mit meiner Renneinteilung, die eigentlich nie eine war.
Paris in Bottrop so nah
Paris überholt mich. Auch das noch! Aber das hilft, denn ich fasse einen Beschluss: Auf der Ziellinie will ich Paris einholen. Soll sie doch vorlaufen, ich kriege sie! Mit dem Gedanken kann ich wieder laufen. Der kleine, blau-grüne Paris-Rucksack leuchtet rund 500 Meter vor mir durch den bunten Bottroper Herbstwald.
Zwischendurch hänge ich mich an ein Pärchen. Wir überholen uns immer mal wieder, je nachdem, wer gerade eine Gehpause macht. An einer Haarnadelkurve kommt mir Paris entgegen. Sie hat nur noch rund 200 Meter Vorsprung! Aber es sind noch etwa 20 Kilometer zu laufen.
Mit meinem Gejammer über schmerzende Füße ziehe ich wahrscheinlich alle Mitläufer völlig runter, die mir Mut machen wollen. Ist mir aber egal. Paris verschwindet wieder aus meinem Sichtfeld, während ich mich über meine Mentalität ärgere. Ich beginne ein Spiel und rechne aus, mit welcher Zeit ich ins Ziel komme, wenn ich mit einer Pace von 9 min/km weitergehe. Das Zeitlimit liegt bei 6:30 Stunden, meine Uhr prognostiziert um die 5:15 Stunden. Ich kann trotz meiner Matheschwäche ausrechnen, dass ich schon extrem trödeln muss, um die 6:30 Stunden zu reißen. Das motiviert ein bisschen.
An jeder km-Markierung rechne ich die verbleibenden Kilometer mal neun. So halte ich mich jetzt mental über Wasser. „Ich könnte jetzt nur noch gehen“, denke ich. Aber ich laufe mehr als ich gehe. Als es noch zehn Kilometer, also 90 Minuten im strammen Spaziertempo, sind, sehe ich, dass ich höchstwahrscheinlich gut unter sechs Stunden ankommen werde. Ich schleppe mich von km zu km und freue mich auf die Marathon-Marke, die auf den Boden gemalt ist.
Verrenkungen fürs Selfie an der Marathon-Marke
Dort angekommen, mache ich seltsame Verrenkungen, um ein Selfie mit der „42,195“ auf dem Boden zu machen. Ein herannahendes Pärchen sieht das und ruft, ob sie ein Foto machen sollen. „Ja, aber beeilt euch doch mal ein bisschen!“, rufe ich zurück und lache mich kaputt – mein Humor ist wieder da, ich lebe!
Ab und zu denke ich an Paris und trauere ihr hinterher. Sie war so nah, nun scheint sie enteilt.
Doch auf einer langen Geraden sehe ich ganz weit vorne etwas Grünes. Das muss Paris sein! Schaffe ich es doch noch?
Das Ding bloß ins Ziel laufen
Tatsächlich! Ungefähr bei Kilometer 45 hole ich Paris ein und überhole sie sogar. Ich habe inzwischen einen ziemlich regelmäßigen Rhythmus aus Lauf- und Walking-Passagen. Unter sechs Stunden schaffe ich es auf jeden Fall. Jetzt muss ich das Ding bloß noch ins Ziel laufen.
Auf den letzten zwei Kilometern machen mir die Schmerzen in den Oberschenkeln und den Fußsohlen plötzlich nichts mehr aus. Die Entfernung zum Ziel schmilzt so dahin. Jubelnd laufe ich durch den Zielbogen auf den Förderturm zu.
Geschafft! Ich bin Ultra!
Stolz und viele Fragen
Was nach dem Lauf bleibt, ist jede Menge Stolz, dass ich diesen irrwitzigen Mentalkampf gewonnen habe. Ja, ich hatte Schmerzen, aber das waren nur die Muskeln und die verdammten Fußsohlen. Da war nichts kaputt, und ich spürte, dass auch nichts kaputt gehen würde. Es war nur fehlende Kraft.
Aber ich stelle mir auch viele Fragen. Allen voran die, ob der nächste Lauf über 50 Kilometer wieder so schlimm werden wird. Vielleicht sollte ich einfach darauf verzichten, zwei Wochen vor einem Ultra einen Marathon mit 800 Höhenmetern zu laufen. Was muss ich an meinem Setup ändern? Vor allem am mentalen?
Zu wenig Respekt vor den 50 Kilometern
50 Kilometer – ich hatte wenig Respekt vor der Distanz, weil es nur acht Kilometer mehr sind als ein Marathon und ich inzwischen in der Lage sein sollte, einen Marathon in gemütlichem Tempo auf eher flacher Strecke schmerzfrei zu laufen.
Die Zweifel und die Schmerzen sind wohl Lehrgeld. Die nächsten langen Läufe werde ich mit mehr Demut angehen. Der Antelope Canyon Ultra wird schließlich ein richtig harter Brocken.
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