50 Meilen, 80 Kilometer beim Antelope Canyon Ultra. Einen echten Brocken hatte ich mir da zu meinem zehnjährigen Läuferleben geschenkt. Doch am Ende ist klar: Die Schmerzen, die Anstrengung, die Kämpfe und die Krämpfe haben sich gelohnt. Was für ein toller Lauf!
Auch wenn der Tag des Antelope Canyon Ultra mit einem ordentlichen Schrecken in der Morgenstunde begann, sollte ich am Ende doch voller Stolz auf eine der genialsten Erfahrungen meines Lebens zurückblicken.
„Verdammte Scheiße!“ — wenn ein Tag mit diesen Worten beginnt, kann er nur besser werden. Doch muss ich ausgerechnet den Tag des größten Laufs meiner (zugegeben: kurzen) Lauf-Geschichte mit derart derben Worten begrüßen? Ja, denn die Erkenntnis, die mich da am Frühstückstisch um 4 Uhr wie ein Blitzschlag traf, war entscheidend für den weiteren Verlauf dieses 14. März 2020. Oder hätte entscheidend sein können. Irgendwie.
Es sollte ein Tag voller eindrucksvoller Erlebnisse, netter Begegnungen, gemeiner Schmerzen, harter Kämpfe und mieser Krämpfe werden — ein sehr guter Tag also.
1. Akt: Die Verwirrung mit der Zeit
„Wir müssen genau JETZT los!!!“, lasse ich dem morgendlichen Fluch folgen. Ich sehe es kommen: Monate lang habe ich trainiert, die USA-Reise geplant, mich vorgefreut, und jetzt verpasse ich den Start des Antelope Canyon Ultra, weil meine Uhr nicht stimmt.
Wie das sein kann? Der Antelope Canyon Ultra findet in und um Page, Arizona, statt. Die Grenze zu Utah ist nah, sehr nah. In Utah, das nördlich von Arizona liegt, gilt die Mountain Standard Time. Logisch wäre, dass Arizona ebenfalls in dieser Zeitzone liegt.
Die Zeit wechselt hin und her
Tut es aber nicht. In Arizona ist es eine Stunde früher als in Utah. In Page stellt man das Handy daher am besten manuell auf die Arizona-Zeit ein. Sonst wechselt die Zeit ständig hin und her, wenn sich das Handy an einem Sendemast in Utah einloggt oder die GPS-Ortung springt. Das Problem kannte ich und hatte mich darauf eingestellt.
Dennoch bin ich ja grundsätzlich übernervös. Darum frage ich beim Frühstück ununterbrochen laut vor mich hin, ob ich denn wirklich ganz gemütlich machen kann. Der Startschuss soll ja erst um 5:45 Uhr erfolgen.
Nach der x-ten Frage wird es meiner Frau zu bunt. Sie liest aus der Info laut vor: „Alle angegebenen Zeiten sind Mountain Standard Time.“
Blitzstart am frühen Morgen
Mir fährt ein Schreck in die müden Knochen. Es folgt der obige Morgen-Fluch. Während wir hier um vier Uhr frühstücken, ist es am Start schon eine Stunde später, obwohl der nur 500 Meter von unserem Campingplatz (gut gewählt, ich bin ja schließlich faul) entfernt liegt?! Was für ein Schwachsinn! Zeit für einen Blitzstart.
Ich verzichte auf die Rasur, erledige im Blitztempo wichtige Morgengeschäfte und springe fluchend und zeternd in meine, naja, sorgsam zu einem Haufen zusammengeschmissenen Laufklamotten. Ich schwinge die Verbalpeitsche, damit wir zügig zum Start gehen können. Eigentlich wollte ich schlendern.
Wir wetzen durch das Dunkel des viel zu frühen Morgens. Es sind keine anderen Läufer da — „Die stehen alle schon am Start!“, rufe ich und peitsche weiter. Ein Posten winkt uns zu. „Are you finishing your race?“, fragt er grinsend. „Yeah, did I win?“, frage ich zurück. Aber wir haben 5:25 Uhr, keine Zeit für Scherze. Doch eine Frage habe ich noch: „By the way, what time is it?“
Der Lebensretter
„4:25“, sagt der Posten. „So the Race starts in more than one hour?“, frage ich unsicher. „Yes“, antwortet er. Mir fallen die Rocky Mountains vom Herzen: „You saved my Life“, sage ich, umarme meinen Lebensretter und schildere kurz, was sich in den vergangenen 30 Minuten zugetragen hat. Und dann erahne ich in der Dunkelheit, dass hier die Aufbauarbeiten gerade erst begonnen haben. Wir sind die Ersten, haben eine Stunde Zeit. Im immer kälter werdenden Wind suchen wir Schutz. Jetzt noch mal zum Wohnmobil zurückzugehen wäre auch irgendwie doof. Es gibt Kaffee, Dixi-Klos und wärmende Lagerfeuer. Das Leben ist schön.
2. Akt: Warum Bilder und Landkarten lügen
Ich habe mich bestens vorbereitet. So akribisch wie nie. Den Verlauf der 50-Meilen-Strecke des Antelope Canyon Ultra hatte ich mir eingeprägt, ich hatte mir Videos angesehen, Berichte gelesen, Fotos durchgeklickt. Rund 1000 Meter Höhenunterschied soll der 50-Meiler haben.
„Das ist ja nix“, dachte ich, weil ich mir vorstellte, dass sich 1000 Meter auf 50 Meilen schon irgendwie verlieren werden. Am Stilfser Joch waren es immerhin doppelt so viele Höhenmeter auf halb so langer Strecke. Aber du kennst das vermutlich, wenn du zum ersten Mal durch eine Gegend fährst, die du ansonsten nur vom Stadtplan oder der Landkarte kennst. Keine Karte, keine 3-D-Darstellung kann mit der Realität mithalten.
Landkarten sind flach, das schönste Höhenprofil ist ebenfalls nicht mehr als eine zweidimensionale Tabelle mit Linien drauf. Karten und Profile, ja, nicht einmal Videos und Fotos sagen etwas über den Charakter einer Laufstrecke aus. Denn dort, wo es wirklich hart und gefährlich ist, nimmt sich niemand die Zeit, um noch Fotos zu machen oder ein Video zu drehen. Und wenn es gerade richtig gut läuft, rennst du lieber und genießt den Flow, statt die Kamera zu zücken.
Klettern und kriechen
Immer war ich davon ausgegangen, dass der Antelope Canyon Ultra einfach nur ein Lauf in schöner Landschaft und mit schwierigem Geläuf ist und dass man hauptsächlich läuft.
Das war ein Irrtum. Wenn wir beim Smalltalk auf der Strecke waren und auf das Thema „Laufen“ kamen, fragte immer jemand: „Did we actually run?“ Und immer antwortete jemand: „No, we walked, we hiked, we climbed and we crawled.“ Der Laufanteil liegt vielleicht bei 30 Prozent.
Bestens vorbereitet? Denkste!
Ich glaubte, die Strecke zu kennen und bestens vorbereitet zu sein. Denkste! Auf den Sand war ich ganz gut vorbereitet, ja. Aber auf Fels? Die Felsen beim Antelope Canyon Ultra sind so eigentümlich, dass du dich eigentlich gar nicht vorbereiten kannst. Und dann der Wind! Ich hatte mit Kälte und Hitze gerechnet, aber nicht mit diesem, kalten Gegenwind. Nicht in Arizona.
3. Akt: Der Antolope Canyon Ultra
Auf die Strecke des Antelope Canyon Ultra gibt es quasi keine Vorbereitung, wenn man nicht gerade ortsansässig ist. Das Geläuf ist nicht unbedingt abwechslungsreich, weil es zu geschätzt 80 Prozent aus Sand und Fels besteht. Aber die Strecke ist fordernd. Immer wieder verlangen Kletterpartien und extrem unebener Boden deine Aufmerksamkeit.
Gleich hinter dem Start, als alle Läufer noch ihre Stirnlampen angeschaltet haben und sich das Feld wie eine Gruppe Glühwürmchen einen Pfad hinaufschlängelt, kommt die erste Klettereinheit. Der Fels auf dem Colorado-Plateau heißt Slickrock, und warum das so ist, erfahren einige Läufer gleich hier. Durch die Kälte der Nacht ist der Stein wirklich schlüpfrig. Doch ohne größere Missgeschicke gelangen alle nach oben.
Was folgt, ist ein langes Flachstück durch eine furztrockene Prärielandschaft mit Büscheln, Kuhfladen, Sand und dem ständigen Blick auf das inzwischen stillgelegte Kohlekraftwerk, das mit seinen drei hoch in den Himmel ragenden Schornsteinen an das Cover von Pink Floyds „Animals“ erinnert.
Die ersten Slot Canyons begeistern die Läufer
Schon bald erreichen wir den ersten Slot Canyon. Läufer greifen zum Handy oder zur Actioncam und halten ihren Lauf durch diesen etwa brusthohen Vorgeschmack auf den Antelope Canyon fest. Die weich ausgespülten Seitenwände, die Windungen und Haken ziehen alle in ihren Bann. Doch wir laufen, denn schließlich sind wir ja zum Sport hier.
Hinter dem Canyon ein kleiner Schock: Statt in den weiteren Verlauf des Canyons hinab, müssen wir eine steile Wand aus Slickrock hinauf klettern. Auf den ersten Blick bieten sich überhaupt keine Tritte. Einzig die leichte Wölbung scheint es zu ermöglichen, hier nach oben zu kommen. Doch es geht. Der Fels ist durch die inzwischen aufgegangene Sonne trockener und griffiger geworden.
Highlight und Enttäuschung: der Antelope Canyon
Es dauert nicht lange, bis wir die erste Verpflegung erreichen. Die ist an der Zufahrt zum Antelope Canyon platziert. Diese Zufahrt ist eigentlich das autobahnbreite Flussbett des Stroms, der alle Jubeljahre mal reißend durch den Canyon strömt und dabei für dessen zauberhaften Anblick sorgt. Momentan verzaubern uns eher die Dixi-Klos und die angebotenen Erfrischungen.
Auf der Sandautobahn zum Canyon bläst uns ein kalter und unerwartet heftiger Gegenwind ins Gesicht. Glücklicherweise hat es in den letzten Tagen öfter mal richtig geschüttet, wodurch der Sand noch relativ fest ist. Ansonsten stünden wir nun alle in einem Wirbel aus rotem Staub. Knapp drei Kilometer kämpfen wir gegen den Wind, bis endlich der Eingang zum Upper Antelope Canyon erreicht ist.
Wieder werden Fotos gemacht, dieser Ort ist magisch. Doch im Innern ist der Canyon vor allem eines: dunkel. Um diese Zeit, es ist kurz vor acht Uhr, steht die Sonne noch viel zu tief, um den schmal in den Navajo-Sandstein geschnittenen Canyon zu erhellen.
Der Canyon ist zwar auch in diesem Halbdunkel schön, aber längst nicht so atemberaubend wie bei meinem Besuch mit einer geführten Tour am Vortag. Immerhin haben wir auf dem Rückweg, der unter anderem durch einen weiteren Slotcanyon führt, in dem wir Leitern hinabsteigen müssen, starken Rückenwind, der mich die Strecke bis zur Verpflegung in einer flotten Pace von 5:40 min/km laufen lässt.
Nächster Höhepunkt: Horseshoe Bend
Ungefähr bei Kilometer 30 komme ich an der Verpflegung Horseshoe Bend an. Zuvor mussten wir abermals klettern und mit teils wirklich tiefem Sand kämpfen. Die Landschaft entschädigt für all diese Mühen. An der Verpflegung ist etwas Erholung angesagt. Der Plan, wie ich ihn mir vorstelle: Gemütlich das Stückchen zum Horseshoe Bend weitertraben, dort Fotos machen und machen lassen, danach weiter über vermutlich relativ ebenes Terrain zum Waterhole Canyon, der noch schöner sein soll als der Upper Antelope Canyon.
Der Plan geht bis zu der Stelle mit den Fotos auf. Handys werden herumgereicht, Selfies geknipst, jeder will ein Bild von sich und dieser perfekt hufeneisenförmigen Schleife, die der Colorado hier tief ins Plateau geschnitten hat, haben.
Sechs Meilen blanker Horror
Was danach folgt, ist eine Stecke zum Vergessen. Nein, zum Verdrängen. Und eigentlich auch wieder nicht. Die Gegensätze könnten krasser kaum sein. Während rechts der tiefe Canyon des Colorado einem den Atem raubt, malträtiert der Boden die Füße, die Waden, die Oberschenkel und die Psyche. Die Strecke ist wirklich ganz, ganz scheußlich. Ein Amerikaner wird hinterher an der Verpflegung Waterhole Canyon sagen, dies seien die schlimmsten sechs Meilen seines Lebens gewesen. Ich weiß nicht, ob es sechs Meilen waren, aber sie waren wirklich ekelig.
Es gibt auf diesem Abschnitt des Antelope Canyon Ultra so gut wie kein Stück ebenen Bodens. Es geht ausnahmslos über schräg nach oben stehende, unterschiedlich lange, gezackte Sandsteinplatten, etwa so, als müsse man auf dem Rücken eines überdimensionalen Stegosaurus laufen, eines Stegosaurus mit sehr unreiner Haut. Wir müssen klettern, springen, gehen, ganz selten dürfen wir frei laufen, doch dann kommt schon wieder ein kleiner Sprung nach unten oder ein Kletterstück nach oben, und immer ist der Boden schräg.
Raue Schönheit: Waterhole Canyon
Der Waterhole Canyon ist ebenfalls ein Slot Canyon, aber an vielen Stellen breiter und grober als der Antelope. Dennoch ist er eine echte Schönheit und sehr spannend, weil er auf relativ kurzer Strecke viel Abwechslung bietet. Der Boden ist sandig, aber in Ordnung.
Nach dem Canyon dürfen wir wieder klettern, bevor es auf laufbarer Sandpiste zurück zur Verpflegung Horseshoe Bend geht. Hier wartet mein Anhang auf mich und gibt mir das ersehnte Magnesium.
Von der Verpflegung Horseshoe geht es auf bereits bekannten Wegen Richtung Page. Fies: Das, was sich vorhin so schön bergab rollen ließ, müssen wir nun wieder hoch. Ich bin inzwischen voller Angriffslust. Irgendwie schaffe ich es bestimmt, die 50 Meilen voll zu machen. Zur Not robbe ich auf dem Zahnfleisch ins Ziel.
Die Stimmung: Nette Gespräche unter den Läufern
Erleichtert wird die Lauferei durch die hervorragende Stimmung unter den Läufern. Die Amis sind grundsätzlich sehr kommunikativ und die klischeehafte Entspanntheit zeigt sich auch auf der Strecke. Smalltalk aller Orten, ein Pärchen fachsimpelt über TV-Serien, andere erzählen Familien-Anekdoten.
Ich bin erfreut, dass mein Amerikanisch immer noch sehr gut zu sein scheint, habe null Verständigungsprobleme. Nur mein Akzent scheint noch da zu sein, denn nach wenigen Sätzen folgt meist die Frage, woher ich komme.
Das lange Finale: der Page Rim Trail
Hast du schon mal Beethovens Achte gehört? Im großen Finale veräppelt sich der Meister selbst und bietet seinem Publikum ein endloses Finale, bei dem du ständig aufstehen und applaudieren willst, bevor noch ein Ton und noch ein Ton und noch einer kommt. Übersetzt auf den Antelope Canyon Ultra ist das der Page Rim Trail. Zehn Meilen Rundkurs um die Stadt, die auf einem Tafelberg über der Landschaft thront.
Doch bis der Trail erreicht ist, müssen wir durch eine Dünenlandschaft mit wirklich tiefem Sand. Einige sehr steile Anstiege reißen mich aus dem Flow, den ich ab und an wirklich finde. Oben am Trail gibt es eine weitere Verpflegung, die nach Vollendung der Runde noch einmal angelaufen werden muss, bevor es dann weitestgehend bergab Richtung Ziel geht.
Als äußerst laufbar habe ich mir den Trail vorgestellt und nenne das in meinen Gesprächen mit Amis „runnable“. Das wird jetzt mein Zauberwort, um die Oberschenkel zu motivieren: „Hey, Jungs! Es wird runnable!“ Zunächst einmal verweigern die Beine aber ihren Dienst. Ich muss wirklich gehen und kann mir nicht vorstellen, noch einmal laufen zu können.
Die zweite, dritte, xte Kraft kommt
Plötzlich geht es wieder und ich schlage ein höheres Tempo an. Motivation kommt von den 100-Meilern, die diesen Trail insgesamt sechsmal ablaufen müssen und beim Entgegenkommen immer (wirklich: immer und jeder!) „nice job“, „doin‘ great“ oder so etwas sagen. Das tut so wahnsinnig gut.
Ungefähr in der Mitte des Rundkurses ist eine weitere Verpflegung, bevor es wieder zum Ausgangspunkt geht. Diese zweite Hälfte bietet eine wahnsinnig schöne Sicht auf Seitenarme des Lake Powell und die angrenzende Ebene. Es ist wirklich der absolute Wahnsinn und wieder ein unglaubliches Spiel der Gegensätze, Beine zu haben, die nur noch aus Schmerzen bestehen und dabei diesen Anblick genießen zu dürfen.
Wenn die letzte Verpflegung wieder erreicht ist, geht es zunächst steil bergab. Das hier ist die runnableste Stelle der gesamten Strecke. Die geplagten Beine wittern Stallgeruch und rollen den Berg hinab. Das rächt sich im Flachen — wieder Krämpfe.
Kleine Gemeinheit direkt vor dem Ziel
Unmittelbar vor dem Ziel haben die Organisatoren eine Gemeinheit eingebaut: Um durch eine Scharte im Fels laufen zu können, haben sie eine Art Podest aufgebaut, das aber weder Treppe noch Rampe hat, zumindest für ankommende Läufer. Man muss klettern.
Zum Glück hat mich kurz zuvor ein Läufer überholt. Er konnte sich nicht deutlich absetzen, ich konnte ihn sogar kurz vor der Rampe wieder einholen. Er erklomm die Rampe im Nu, ich wollte es ihm nachmachen, doch beim Heben meines Beins, krampfte der Oberschenkel sofort wieder. Keine Chance. Nächster Versuch, anders herum: gleiches Ergebnis. Ich kann mir nicht anders helfen und rufe laut „Fuck!!!“. Sofort dreht sich der andere Läufer um und kommt mir zur Hilfe. Er reicht mir die Hand, ich kann mich hochziehen.
Ich bedanke mich herzlich und sage: „I’ll let you win now.“ Wir grinsen, er läuft mit seiner Freundin, die ihn wenige Hundert Meter zuvor abgeholt hatte, ins Ziel. Ich biege um die letzte Ecke und staune, dass ich wirklich schon im Ziel bin — die Uhr zeigt 78 Kilometer statt 80. Aber wen interessiert das schon?
Ich habe es geschafft!!!
4. Akt: Kämpfe, Krämpfe und Lehren fürs Leben
Kampf: Es gibt zahlreiche Kämpfe, die ich während eines solchen Laufs ausfechte. Besonders gemein war die Ankündigung der Veranstalter, dass 50-Meiler ab einem bestimmten Punkt, an dem die Hauptattraktionen der Strecke bereits abgehakt sein würden, aussteigen können und dann in die Wertung für 55 Kilometer kommen. Dieser Gedanke war sehr verlockend und es kostete mich sehr viel mentale Energie, weiterzumachen.
Ich dachte an diesen Text und wie ich meinen Ausstieg hier verkaufen würde. Es hätte irgendwie geklappt, aber ich wollte 50 Meilen laufen. Bis mir ein Spruch in den Kopf schoss, von dem ich dachte, dass er sich in einem Text viel besser machen würde als die Erklärung eines Ausstiegs: Wenn du überhaupt nicht mehr laufen kannst, lauf einfach weiter. Denn wie Laufkumpel Michele Ufer ja weiß, ist laufen zu 90 Prozent Kopfsache und der Rest mental. Zum Weiterlaufen musste ich mich noch einige Male überreden, ein langer Kampf mit glücklichem Ende.
Ein weiterer dieser Momente ereilte mich unsinnigerweise rund sieben Kilometer vor dem Ziel. Der letzte Verpflegungspunkt kam einfach nicht näher, der Page Rim Trail schien kein Ende zu nehmen. Nach jeder Ecke hoffte ich, es möge die letzte sein, doch es folgten immer noch weitere. Da entschädigte irgendwann auch die herrliche Aussicht nicht mehr. Ich wollte fertig werden. Dabei ist es ja völlig irrelevant, wie viele Ecken auf sieben Kilometern kommen, denn sieben Kilometer werden nicht kürzer oder länger, wenn sie mehr oder weniger Ecken haben.
Am liebsten würde ich jetzt sofort stehen bleiben und mich von einem Mediziner abholen lassen. Ich WILL nicht mehr. Auch das ist reine Mentalsache. „Jeder Schritt bringt mich näher ans Ziel„, sage ich mir — eine Binse, die mit weichem Kopf und harten Beinen aber klingt, als spräche eine Mischung aus Immanuel Kant, Sitting Bull und Buddha zu mir.
Derbysieg trotz Spielabsage
Und dann ist da noch ein Trick. Es ist Samstag, der 14.3., eigentlich hätte Derby sein sollen, das aber wegen Corona abgesagt wurde. Aber ich bin ja in schwatzgelb und mit meinen BVB-Halstüchern sehr derbymäßig gekleidet und will meinen kleinen, privaten Derbysieg feiern. Als es laut meiner Uhr noch etwas mehr als fünf Kilometer ins Ziel sind, beschließe ich, den Streckenabschnitt, auf dem beim Berechnen der Reststrecke eine Nullvier vor dem Komma steht, so schnell wie möglich hinter mich zu bringen. Als es noch 3,99 Kilometer sind, bin ich erleichtert. Albern, aber funktioniert.
Krampf: Besser: Krämpfe. Bis zum ersten Verpflegungspunkt am Horseshoe Bend laufe ich eigentlich ganz gut. Der stellenweise wirklich tiefe Sand fordert zwar seinen Tribut, aber ich fühle mich komplett im grünen Bereich. Doch zum VP Horseshoe führt ein gar nicht mal steiler, aber langer und sandiger Abstieg, er dazu verleitet, etwas zu viel Tempo zu machen. Da muss mir irgendetwas in die Beine gefahren sein.
Die Oberschenkel werden allmählich härter und deuten Krämpfe an. Ich habe in der Eile des Morgens natürlich mein Magnesium im Wohnmobil vergessen. Also texte ich per Handy, meine Begleitung möge mir zum verabredeten Treffen bei der zweiten Passage des VP Horseshoe Bend Magnesium bringen. Im Medizinzelt gibt es keines.
Später spendiert mir ein Mitläufer drei seiner Salztabletten, doch auch die helfen nicht wirklich. Die Krämpfe in den Oberschenkelinnenseiten bestimmen jetzt meine Pace. Das ruppige Gelände zwischen Horseshoe Bend und Waterhole Canyon mit seinen vielen Auf- und Abstiegen macht es unmöglich, einen erträglichen Schritt zu finden.
Am heftigsten erwischt es mich im Waterhole Canyon. Ausgerechnet in diesem wunderschönen Canyon erlebe ich meine erste Krise des Antelope Canyon Ultra, als wir an einer sehr engen, etwa brusthohen Stelle mit einer Art Barren-Aufschwung aus dem Slotcanyon aussteigen müssen. Zum Glück habe ich ein mit mir laufendes Pärchen gebeten, ein Foto von mir zu machen. Ich hole Schwung und wuchte mich aus dem Canyon und mitten in der Bewegung fährt es mir ins ausgestreckte Bein. Der rechte Oberschenkel krampft. Sofort eilt mir der Mitläufer zur Hilfe und knüppelt mit der Faust auf die harte Stelle ein, bis der Schmerz verfliegt.
Die Krämpfe begleiten mich nun. Es sind noch beinahe 40 Kilometer bis zum Ziel, die ich irgendwie durchstehen muss. Ich schaffe das, weil es keine Alternative gibt. So einfach ist das manchmal.
Lehren: Jeder Lauf bringt dich weiter — geografisch, physisch und mental. Auch beim Antelope Canyon Ultra lerne ich unentwegt. Ich gewinne die Erkenntnis, dass es eine große Hilfe ist, Leidensgenossen um dich herum zu haben und Krisen gemeinsam durchzustehen, sich über dieselben Dinge zu ärgern und zu freuen, dieselben Witze zu reißen. Wenn du durch die Wildnis läufst, kannst du nicht einfach aufhören.
Ich habe Zweifel und Ängste überwunden und die Zweifel und Ängste anderer weggewischt. Diese Frage: „Wie verrückt muss man sein, um so einen Lauf zu machen?“, halte ich für total abwegig. Auf „Wie kann man das machen?“ gibt es nur eine Antwort: „Indem man anfängt.“
Ich glaube, die größte Angst vor solchen Unternehmungen ist nicht die Angst vor der Aufgabe, sondern die Angst davor, das irgendwie kommunizieren zu müssen. Aber wenn du dich kennst und weißt, dass viele Schwächen in Wahrheit nur Ausreden sind, dann schaffst du alles. Ich bin die zweite Hälfte des Laufs mit einem total entspannten 100-Meiler gelaufen, der mir immer wieder Mut gemacht hat und ohne den die letzten Kilometer noch schlimmer gewesen wären als sie es eh schon waren.
Ungefähr die Hälfte des Teilnehmerfeldes beim Antelope Canyon Ultra ist weiblich. Jung, weiblich und in den meisten Fällen, die ich auf der Strecke erlebt habe, unglaublich relaxed und gut gelaunt. Vielleicht ist das ein amerikanisches Phänomen, aber die Leute waren durch die Bank total locker und entspannt.
5. Akt: Epilog — von Uhren, Netzen und Tränen
Geteiltes Leid ist halbes Leid, geteilte Freude, ist doppelte Freude. Und wenn du dich darauf freust, im Ziel von deinen Liebsten empfangen zu werden und da dann niemand ist, dann ist das einfach Scheiße.
Wenn du durch die Knüste rennst, hast du weder ein Sicherheits- noch ein Handynetz. Auch mit einer amerikanischen Prepaid-Karte nicht. Als ich noch klar im Kopf war, hatte ich meinem Anhang Nachrichten nach folgendem Muster geschickt: aktuelle Uhrzeit, km-Stand, vermutliche Ankunft am Treffpunkt. Das hat gut geklappt, denn auch wenn die Nachricht verspätet rausgeht oder empfangen wird, weiß der Empfänger, von wann sie ist.
Wichtige Infos vergessen
Als ich auf dem Page Rim Trail gerade ein körperliches Tief durchmache, schicke ich eine deprimierte Nachricht, dass ich laut Uhr 13:45 Stunden brauchen werde und es noch 19 Kilometer sind. Ich habe vergessen, die Uhrzeit dazuzuschreiben. Später schicke ich eine à la: „Geht wieder, wird wohl eher 13:35.“ Wieder keine Uhrzeit und auch kein Kilometerstand.
Meine Uhr zeigt mir zuverlässig die Prognose an, wann ich wohl ins Ziel kommen werde. Allerdings lasse ich sie die Zeit für 80 km anzeigen. Ich weiß, dass die Strecke nicht genau 80 km lang ist. 79,8 oder so. Irgendwas mit einer Acht, das weiß ich.
Irgendwann bekommt mein Anhang meine Nachrichten und beschließt, dass offenbar noch viel Zeit ist und man noch einkaufen kann, um den 80-Kilometer-Mann ordentlich begrillen zu können.
Im Ziel kullern die Tränen
Als ich von dem mit Krämpfen bekletterten Podest Richtung Ziel laufe, habe ich kein Auge für meine Uhr. Ich renne im Rahmen meiner Möglichkeiten und jubele. Ich überquere die Ziellinie, drücke die Uhr, sehe da eine 78 stehen — und sehe sonst niemanden. Ich bin allein, während andere Läufer in den Arm genommen werden.
Nach laut Uhr 13:13:13 Stunden (offiziell 13:13:08) stehe ich mutterseelenallein im Ziel und weiß nicht, wohin mit mir. Ich bin eine halbe Stunde zu früh und fange erst einmal an zu heulen.
Finish.
Glückwunsch zum Finish! Ein toller Lauf. Danke, dass Du uns mitgenommen hast 🙂 Frauchen kennt die Gegend um Page etwas – ein Traum. Wenn Du das alles verdaut hast, auch ein läuferischer Traum! Und ein begeisternder Bericht, wir haben ihn schon zweimla gelesen und mitgefiebert, mitgelitten, mitgefreut.
Jetzt komm wieder gut nach Hause, hoffentlich klappt das alles.
Gruß Iwan