Es sollte das letzte Mal sein. Den Paris-Hattrick komplettiert, basta. Reicht ja auch, sollte man meinen. Doch warum sollte sich meine Meinung zum Paris-Marathon geändert haben, nur weil ich zum dritten Mal den Zielbogen durchlaufen habe? Der Abschied fällt nicht leicht. Vielleicht ist es auch gar keiner.
Mit dem Gedanken, dass dies das letzte Mal sein würde, dass ich die Champs-Élysées mit viel zu hoher Pace hinunterlaufe, starte ich in den Tag.
Die Fahrt mit der Metro zum Place Charles de Gaulle, das Gewusel um den Triumphbogen — ich sauge alles auf und genieße.
Mit Wehmut im Herzen bringe ich meinen Rucksack weg, schaue mir meine Mitläuferinnen und -läufer an und blicke auf das stetig wachsende Meer aus Köpfen, das allmählich die Champs-Élysées flutet.
Pünktlich um 9 Uhr setzt sich mein Startblock in Bewegung. Ich verfalle in einen gemütlichen Trab. Ein erster Blick auf die Uhr soll mir meinen Eindruck bestätigen, tut es aber nicht: 5:25 min/km.
Erst zu schnell, dann die richtige Pace gefunden
Ich bin also wieder zu schnell. Ich beschließe, das zu hohe Tempo auf dem Bergabstück zum Place de la Concorde zu halten und erst ab da mit angezogener Handbremse zu laufen.
Das klappt. So geht es weiter, völlig locker und unangestrengt. Ich bin Eins mit der Strecke, konzentriere mich völlig auf den Lauf, bin streckenweise in einer Art Flow. Die ersten fünf km laufe ich in 28 Minuten, rechne aus, dass ich nach 56 Minuten die Zehner-Marke erreicht haben müsste (was mir gelingt) und laufe weiter. Das ist so unspektakulär, dass ich für die nächsten Kilometer abschweifen kann.
Warum sollte Paris 2018 mein (vorerst) letzter Start an der Seine sein?
Grund 1: Die Osterferien sind so immer durch Paris blockiert. Kann ich nicht im Prinzip ständig nach Paris fahren? In den Thalys setzen und keine sechs Stunden später am Gare du Nord aussteigen – dafür brauche ich kein Training und keine Osterferien.
Grund 2: Paris ist Hitze nach einem langen, kalten und dunklen Wintertraining.
Viermal habe ich nun für Paris trainiert, einmal musste ich verletzungsbedingt das Rennen sausen lassen, viermal Winter, viermal Hitze am Tag des Laufs. „Nie mehr“, habe ich mir bei vielen meiner ätzenden, winterlichen Laufeinheiten geschworen.
Grund 3: Es gibt auch noch andere schöne Marathons, warum also jedes Jahr Paris?
Grund 3 lässt sich am einfachsten widerlegen. Die coolen Marathons sind eh im Herbst. Außer Hamburg, der ist nur drei Wochen nach Paris und somit ebenfalls mit Winter-Training verbunden. Köln wäre doch was oder noch einmal der Baldeneysee. New York ist zu teuer.
Grund 2 hingegen lässt sich kaum wegdiskutieren. Das Training ist Mist, die Hitze ist Mist.
Grund 1 kann ich gelten lassen, will es aber nicht. Ich liebe Paris, und der Paris-Marathon IST wie Paris mit all der organisatorischen Perfektion und den vielen, kleinen Gedankenlosigkeiten, die ihn dann auf eine gerade noch erträgliche Weise chaotisch machen. Ein Beispiel dafür gefällig, wie sich Frankreich und Deutschland unterscheiden?
Praktische Plastiktüte gegen nettes Rucksäckchen
Bei deutschen Marathons bekommst du in der Regel einen Kleiderbeutel aus Plastik, in dem Wechselklamotten, Startunterlagen, Nahrung und notfalls auch ein Wagenheber für Notfälle Platz finden.
In Paris gibt es einen netten Rucksack, der aussieht wie ein echter Laufrucksack, diese Funktion aber nur bedingt erfüllt. Très chic, möchte man juchzen.
Doch dann versuche man bitte, den Umschlag mit der Startnummer knitterfrei in diesen Rucksack zu packen. Es geht nicht. Der Sack ist einfach zu klein, gerade groß genug, um am Lauftag das Nötigste zu verstauen, also eine effizient kleingerollte Hose und eine ebenso stark komprimierte Jacke. Das war‘s.
Paris ist der Verzicht auf Iso-Getränke an der Strecke und im Ziel, dafür aber eine Masse an Rosinen, Honigkuchen und Trockenobst. Es ist die Abwesenheit von alkoholfreiem Bier im Ziel, die Frechheit, dass Läufer für ein echtes Bier 7€ bezahlen müssen.
Ach, Paris – das ist, wenn im Frühstücksraum des Hotels ein kleiner Kühlschrank voll mit Butter und Joghurt steht, sich die Kühlschranktür aber aufgrund des Standorts nur so öffnen lässt, dass man um sie herumgreifen muss, um an den Inhalt zu gelangen.
Konsequent französisch
Ich mag es, wie konsequent französisch — und doch kosmopolitisch — die Veranstaltung ist und mir gefällt das ebenfalls sehr französische Statement, ausgerechnet in Zeiten teils nervtötender Gender-Diskussionen verschiedenfarbige Finisher-Shirts für Männer (langweiliges Standard-Dunkelblau) und Frauen (ein wirklich schöner Farbton Richtung Aprikot – NICHT Pink) auszugeben.
Und die Stimmung! Es heißt ja oft, in Berlin sei die Stimmung so super. Ja, ist sie. Und auch nicht, wenn man die teils öde Musik betrachtet, die dort am Streckenrand gegeben wird. Paris steht Berlin jedenfalls in nichts nach. Es gibt extrem laute Stellen und eben solche, an denen wenig bis nichts los ist. Das liegt nicht an den Parisern, sondern an der Streckenführung. Im Bois de Vincennes wohnt halt niemand.
Da sind Familien beim Sonntagsausflug, Jogger (von denen es in Paris Massen gibt – selbst bei Dunkelheit nach Feierabend) und andere Freizeitgenießer unterwegs. Gleiches gilt für den Bois du Boulogne. Doch zwischen den Wäldern am Ost- bzw. Westende der Stadt macht das Publikum bisweilen einen Höllenlärm und macht die Strecke so eng, dass man sich als Läufer richtig wichtig vorkommt.
Sehr schön sind die vielen, vielen Anfeuerungen mit Namen. Ich finde es wirklich außergewöhnlich, dass sich die Leute die Mühe machen, den Namen unter der Startnummer zu lesen und so ihre Anfeuerung etwas persönlicher machen.
Halbmarathon-Marke im Zeitrahmen erreicht
Während ihr das gelesen habt, habe ich die Halbmarathon-Marke passiert (1:56:33). Ich habe aus dem Venloop gelernt, mit der Abweichung der km-Angaben auf der Uhr und an der Strecke umzugehen. Nach jedem Fünferpäckchen addiere ich 28 Minuten für den nächsten Fünfer. Die Zeitprognose der Uhr (immer so um die 3.52 bis 3:55) nehme ich zur Kenntnis, rechne aber für die 160 Meter Differenz zwischen Uhr und echten Kilometern noch ein Minütchen drauf. Der Kopf ist frei genug für solche Dinge.
Beim Basketball kläglich versagt
Laufen ist mein Sport— Basketball weniger, denn als ich versuche, aus zwei Metern Entfernung eine Wasserflasche in einen Müllcontainer zu werfen, versage ich kläglich. Ich stoße ein „Ooooooh, Maaaann!“ aus. Hinter mir lachen ein paar Franzosen über meine Künste im „Basket“. Vielleicht sollten die Veranstalter für jeden Treffer einen Zeitbonus von zehn Sekunden gutschreiben — das würde das Training deutlich abwechslungsreicher machen.
Ich habe noch viele Gelegenheiten zum Üben, denn an jeder Verpflegung folge ich einem festen Ritual: Inhalt der fast leeren Flasche über den Kopf oder in den Nacken kippen. Flasche wegwerfen. Zwei neue Flaschen greifen, eine geöffnete und eine verschlossene. Aus der geöffneten zwei, drei Schlucke trinken, den Rest wieder über Kopf und Körper kippen, Flasche wegwerfen. Die volle Flasche mit Deckel weitertragen, bis ich trinken möchte.
Feuerwehr und Helfer bringen Abkühlung
Noch mehr Wasser gibt es von der Feuerwehr und anderen guten Geistern, die es unterwegs aus Wasserschläuchen auf die Strecke regnen lassen. Woanders stehen Eimer parat, aus denen man sich Wasser ins Gesicht und auf die Klamotten schöpfen kann.
Irgendwo vor Kilometer 30 dusche ich ausgiebig und genieße den Anblick des Regenbogens vor mir. Mit pitschnassen Füßen geht es weiter. Nach zwei, drei Kilometern sind sie wieder trocken.
Plötzlich steht da ein Bus vom FC Bayern
Hinterm Eiffelturm sehe ich einen Reisebus mit großem FC-Bayern-Emblem. Ich recke einen Arm in die Höhe und zeige einen Stinkefinger. Läufer um mich herum, allesamt Franzosen, wirken erst verwirrt, als ich meinen Arm beim Laufen aber so drehe, dass er weiter in Richtung Bus zeigt, verstehen sie und lachen.
Ich bin mitten in meinem Durchhänger. Meine Pace bricht ein, obwohl ich mich gar nicht so schlecht fühle. Ich bin mir absolut sicher, dass es wieder unter vier Stunden werden können, wenn ich bloß bei der Sache bleibe. Zwei Gels habe ich bis jetzt genommen. Ich greife zu Rosinen, die an der Verpflegung angeboten werden. Ich hasse Rosinen! Aber in diesem Moment schmecken sie so süß und so gut, als ob sie genau für diesen Moment erfunden worden wären. Ich spüre Kraft. Mit einem Gel mit Koffein hoffe ich auf einen kleinen Boost – es funktioniert. Ich weiß nicht, ob das Koffein im Kopf oder in den Beinen wirkt, aber es wirkt. Alles wird ein bisschen leichter.
Der Mann mit der 3:45 zieht vorbei
Plötzlich huscht etwas Großes an mir vorbei und ruft sowas wie „Platz da!“ auf Französisch. Es ist der 3:45-Zugläufer mit seiner Entourage. Ich bin entsetzt, wie schnell der ist. „Auf die Pace habe ich doch trainiert, das ist sowas wie meine Wohlfühl-Pace“, denke ich und erhöhe das Tempo, um Schritt zu halten. Doch ausgerechnet jetzt scheinen zahllose erschöpfte Läufer genau in meinem Weg Pause machen zu müssen. Ich fühle mich eingekeilt, der Mann mit der 3:45-Fahne enteilt. Als die nächste Verpflegungsstelle kommt, vollziehe ich mein Flaschen-Ritual und lasse ihn ziehen.
Relive ‚Paris-Marathon 2018‘
Ich lege meinen Schlachtplan für die nächsten Kilometer zurecht. Mir hilft mein heimlicher Raketentreibstoff: Wut! Negative Gedanken anderen Menschen gegenüber machen mir Beine. Ich denke an den Bayern-Bus, an Pausierer in der Streckenmitte, an den Idioten mit dem Filzhut und der lässigen Weste, der irgendwo im dicken Getümmel meinte, genau vor mir sei der perfekte Ort zum Überqueren der Laufstrecke. „Gut, dass der mich nicht verstanden hat“, denke ich, weil mein Gepöbel nicht gerade jugendfrei war, als ich ihn zur Seite schubste. Die Wut hilft mir.
Gedanken an den Mann mit dem Hammer
Ich kenne ja die ganzen Lügen à la „NUR noch zwölf Kilometer“ bei km 30. An der 32-er Marke denke ich aber doch, dass es jetzt wirklich nur noch zehn Kilometer sind und dass die heute keine zu hohe Hürde sein werden. Ich denke an den Mann mit dem Hammer, ob es ihn gibt und wie er denn wohl arbeitet.
Dann kommt mir der Gedanke: Der Mann mit dem Hammer bin ich doch selbst! Der Hammer versinnbildlicht zu wenig gelaufene Trainings-Kilometer, zu viele getrunkene Biere, zu wenig Schlaf… Ja, auch ich mache hier wieder Bekanntschaft mit ihm. Von km 27 bis km 35 ziehe ich ihn hinter mir her. Sein Hammer musste sich irgendwie in meinen Schnürsenkeln verhakt haben.
Aber er hat nicht zugeschlagen.
Bei km 35 schüttele ich ihn ab und trete mir mental in den Arsch. Tempo hoch! Ich werde diesen Marathon in unter vier Stunden beenden. Und zwar nicht in 3:59:59. Wieder ein Kilometer geschafft. Ich rechne: Noch sechs Kilometer mal fünf Minuten (als ob ich eine 5er-Pace laufen könnte!) sind 30 Minuten. Ich schaue auf die Uhr: Passt. Aber passt es auch mit einer Pace von 5:15 oder 5:25? Ich überschlage, kann aber nicht rechnen. Ich schaue auf die Prognose, die etwas von 3:55 anzeigt. Das reicht! Zumal ich weiß, dass ich auf den letzten zwei Kilometern immer noch ein paar Körnchen für eine Tempoverschärfung finde.
Flasche weg und ab zum Ziel
Während ich rechne, passiere ich die 37 und überlege, ob es jetzt wirklich nur noch fünf Kilometer sind oder ob ich irgendwo einen Denkfehler mache. Ich bin mir sicher, dass es fünf sind und verschärfe leicht das Tempo. Ich denke an meine Intervalltrainings und versuche mich in das Gefühl des letzten Intervalls einer Serie von fünf 3000ern hineinzuversetzen. Es klappt! Training hilft tatsächlich! Die vor mir liegenden Kilometer schrumpfen im Intervall-Feeling schneller als erwartet. Noch ein paar Schlucke aus der Pulle, noch einmal Wasser auf Kopf und Shirt, dann Flasche weg und mit leeren Händen Richtung Ziel.
Kopfsteinpflaster! Du hast mehr als 30 Kilometer in den Beinen und Paris schenkt dir zur Belohnung Kopfsteinpflaster. Noch so ein Grund, diesen Marathon, naja, nicht zu lieben. Oder doch? Aber auch das Geläuf ist nur ein Problem, wenn man drüber nachdenkt. Ich denke ans Ziel. Das ist irgendwo da vorne, zum Greifen nah. Ich weiß, dass die Macher der Strecke sich noch eine Gemeinheit ausgedacht haben, daher wirft mich der kleine Kringel, den die Strecke im Bois du Boulogne vollführt, nicht aus der Bahn. 42,195 km sind 42,195 km – ob mit oder ohne Kringel. Ich laufe.
Die Stimmung am Streckenrand wird besser. Ich höre einen Läufer „Quatre cent metres“ sagen und glaube ihm nicht. Ich meine, es sind mehr, vielleicht 500 oder 600, vorsichtshalber fange ich aber an zu rennen. Eine Linkskurve, dann strahlt weit vorne der grüne Zielbogen. Ich schaue nicht auf die Uhr, weil ich weiß, dass ich jetzt sogar spazierengehen könnte, um unter vier Stunden zu bleiben.
Brüllen, grinsen, lachen, weinen
Aber ich will rennen und renne. Im Zieleinlauf ist Krach, ich habe freie Bahn und stürme ins Ziel, stoppe die Uhr, brülle einen Helfer an, grinse und lache. Bis ich meine Füße spüre.
Viel später, als die Medaille um meinen Hals und das Finisher Shirt lässig an meinem Hosenbund baumelt, schreite ich (jeder, der schon mal Marathon gelaufen ist, weiß, dass „schreiten“ nicht ganz genau das passende Wort ist) in Richtung Triumphbogen und drehe ich mich noch mal um. Ich sehe die Zielmeile, höre französische Durchsagen und ein sehr französisches Stimmengewirr. Und da rollen mir doch ein paar Tränchen aus den Augen.
Soll das wirklich das letzte Mal Paris gewesen sein?
Du kannst noch viele Marathons laufen, Stefan, warum nicht wieder Paris. Der ist ja auch toll. Mir geht es so mit Münster!
Eine klasse Story !
Danke dafür , hat Spaß gemacht zu lesen, und eventuell Lust das erstemal Paris zu erleben …
Gruß