Je mehr ich beim Laufen den Ehrgeiz verspüre, besser zu werden, stelle ich fest, dass ich mich für den falschen Sport entschieden habe. Denn laufen ist Mathematik. Und ich kann nicht rechnen.
„Fußball ist keine Mathematik“, hat mal ein unsympathischer Fußball-Funktionär zu einem sehr erfolgreichen Trainer, der ursprünglich Mathelehrer war, gesagt. Das Doofe an der Sache ist, dass der Funktionär richtig lag. Eine Fußballmannschaft ist mal mehr, mal weniger als die Summe ihrer Einzelspieler. „Form schlägt Klasse“, hat Jürgen Klopp das mal genannt.
Läufer kämpfen gegen Zahlen
Ich laufe. Und laufen ist sehr wohl Mathematik. Es ist beim Laufen so gut wie ausgeschlossen, dass jemand wegen einer guten Renntaktik als totaler Außenseiter gewinnt. Wenn Läufer A den Marathon zehn Minuten schneller läuft als Läufer B, wird A vermutlich auch an einem schlechten Tag gegen B gewinnen. Läufer kämpfen gegen Zahlen, sei es die Entfernung oder die Zeit.
Zahlen und ich, das ist eine Hassliebe. Ich finde zum Beispiel Statistiken und Tabellen total faszinierend und verstehe sie auch meist. Aber ich kann nicht rechnen. Für den Alltag reicht es, aber wehe, ich bin auf der Bahn und mein Blut sackt vom Kopf in die Beine. Dann ist Schicht.
Als ich beim Paris-Marathon heldenhaft das Sechser-Einmaleins durchrechnen konnte, um meine Zwischenzeiten auszurechnen, war ich überrascht. Aber da war ich ja auch total entspannt. Im Training, insbesondere bei Intervallen, ist das völlig anders.
Runden zählen ist langweilig
Nehmen wir 2000-Meter-Intervalle. 2000 ist eine schöne, glatte Zahl. Es sollte also ein Kinderspiel sein, beim Laufen auf einer 400-Meter-Bahn einfach runterzuzählen, wie weit es noch ist. 2000 Meter sind fünf Runden. Das weiß selbst ich.
Aber nur Runden zu zählen, ist mir zu langweilig. Ich will mehr Zwischenstände haben und ständig kontrollieren, wie es so läuft. Also zähle und rechne ich fleißig und komme dabei immer komplett durcheinander. Das geht zum Beispiel so:
Runde 1:
- Nach der Startkurve checke ich die 100-Meter-Zeit. Das sollten so 24-25 Sekunden sein.
- 100 Meter weiter schaue ich noch mal, ob es nun 50 Sekunden sind. So weit, so leicht.
- Jetzt versuche ich, auszurechnen, was 50 Sekunden mal zwei sind, um meine 400-Meter-Zeit hochzurechnen. 100 Sekunden – aber was ist das in Minuten?
- Zwischendurch kontrolliere ich immer die Pace. Steht da 4:30 ist alles gut. Das verstehe ich immerhin.
- Ich passiere den 100-Meter-Start und überlege, ob mein Ergebnis „1:40 min“ passt. Ich beschließe, am Ende der Runde einfach auf die Uhr zu schauen, um zu sehen, ob ich ungefähr richtig lag.
- Die Start-/Ziellinie kommt. Zeit stimmt. Noch vier Runden.
Runde 2:
- Noch 1600 Meter, glaube ich. Vier Runden.
- Nach der Kurve laufe ich über die Markierung des 1500-Meter-Starts. Ich weiß also: Noch 1500 Meter!
- Auf der Gegengerade muss ich über mich selbst lachen. In meinem Kopf lief nämlich gerade folgende Rechnung ab: Gerade war der 1500-Meter-Start. Gleich bin ich 100 Meter weiter. 1500 plus 100 macht 1600… mööööööp!!!
- Kichernd biege ich auf die Zielkurve und frage mich, wie weit es jetzt wirklich noch ist.
- Wieder die Start-/Ziellinie. Noch drei Runden, 1200 Meter.
Runde 3:
- Es läuft ganz gut. Ich freue mich auf den 200-Meter-Start, weil da Halbzeit für diesen Intervall ist.
- Die Gegengerade endet, die 200-Meter-Linie kommt: „Geil noch 1000 Meter!“ Wow – stimmt!
- Ich laufe 100 Meter weiter und habe keine Ahnung, wie viel ich jetzt noch muss.
- Ziellinie: Noch 800 – das kann ich wieder!
Runde 4 und 5:
- Ich glaube, 800-100=600 und renne wieder kichernd weiter, bis es wirklich noch 600 Meter sind.
- Erst als ich zum letzten Mal die Start-/Ziellinie passiere, bin ich mir sicher, dass es jetzt wirklich nur noch 400 Meter sind. Komischerweise sind es 100 Meter weiter wieder 500.
- Ich beschließe, einfach diese Runde zuende zu laufen – ist ja die letzte.
Der Hauptgrund, warum ich mich immer wieder selbst aufs mathematische Glatteis führe, ist der, dass ich im Kopf gerne 100 Meter voraus bin. „Ab da vorne sind es noch 1000 Meter“, denke ich, und wenn ich „da vorne“ bin, ist der Kopf schon wieder eine Kurve weiter. So bringe ich mich immer wieder selbst durcheinander. „Da hinten waren es noch 1500 Meter, gleich kommt die nächste Kurve, wie weit ist es dann jetzt noch?“ – ich versage.
Zweimal zehn gleich einundzwanzig
Diese kleinen Fehlleistungen ziehen sich bei mir durch jedes Intervalltraining und jedes Rennen. Neulich beim Phoenixsee-Halbmarathon musste ich schon wieder über mich kichern.
Ich habe – um die Spannung hoch und den Kopf beschäftigt zu halten – auf meiner Laufuhr eine Prognose-App, die mir immer erst die Zeit für fünf km vorhersagt. Sind die erreicht, springt sie auf zehn, dann auf Halbmarathon, danach auf Marathon. Ich mag das manchmal irgendwie lieber als gleich die Zielprognose zu sehen.
Beim Phoenixsee-Halbmarathon errechnete die Uhr für zehn Kilometer eine Zeit von 52 Minuten. Im Kopf verdoppelte ich die Zeit, kam auf 104 Minuten und freute mich auf eine krachende neue Bestzeit. Als die Uhr dann aber auf die Halbmarathon-Prognose umsprang, standen da nicht 1:44 Stunden, sondern 1:49!!! Ungelogen, ich habe bestimmt zwei Kilometer damit verbracht, zu überlegen, wo ich ganze fünf Minuten verloren haben soll, bis mir plötzlich siedendheiß einfiel, dass ein Halbmarathon nicht 20, sondern 21 Kilometer lang ist.
Wann endet ein Marathon?
Oft rührt meine Verwirrung auch einfach daher, dass ich mir die Strecke irgendwie sinnvoll einzuteilen versuche. Beim Marathon zum Beispiel peile ich den Kilometer 41 an, weil danach so etwas wie der Endspurt oder der Ehrenkilometer kommt. Ich bin also relativ fixiert auf die 41.
Umso größer ist dann bei Kilometer 35 die Überraschung, dass es in echt noch sieben Kilometer bis zum Ziel sind. Und auch die vier Kilometer ab der 37-km-Marke sind schlichtweg falsch. Ich grübele dann gerne: „Beim Black Jack sind 17 plus 4 doch 21. Warum sind es dann ab km 37 nicht noch vier Kilometer bis ins Ziel, verdammt?“
Matheschwäche hilft mir beim Laufen
Wie auch immer ich mir beim Laufen die Strecke falsch zurecht rechne – meine Matheschwäche hilft mir sehr. Nicht weil ich mir irgendetwas schönrechne, sondern weil ich etwas habe, worüber ich mich amüsieren kann. Lachen motiviert und hebt die Laune, auch wenn ich über mich selbst lache.
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