Laktat, du geile Sau!

„Bloß nicht übersäuern!“ Das Mantra der Langstrecken-Läufer klingt öde und verleitet uns Amateure im Training dazu, immer schön in der Wohlfühlzone zu laufen. Das Ergebnis sind „schnelle“ Läufe, die zu langsam geraten. Denn wenn es einen Stoff gibt, den wir wirklich verabscheuen, dann ist das Laktat. Zu unrecht.

Beim Laufen langer Strecken gibt es – wenn man etwas Glück hat – diesen Moment, wenn das Gehirn quasi wegkippt. Der Körper kümmert sich um die Lauferei, das Gehirn denkt Dinge, an die wir uns später nicht erinnern. Das heißt dann Flow oder Runner’s High.

Unterhalb der Schmerzgrenze ist Flow möglich

Dieser Zustand stellt sich gerne ein, wenn wir in oder am Rande unserer Komfortzone trainieren, also unterhalb der Schmerzgrenze Dinge tun, in denen wir aufgehen und die wir können.

Der wahre Kick und die echte Glückseligkeit warten aber woanders, nämlich weit draußen in den Tiefen der harten Trainingsreize. Der Wunderstoff, der Körper und Seele reinigt wie Rohrfrei einen verstopften Abfluss, heißt: Laktat, ein Ester der Milchsäure.

Laktat reichert sich außerhalb der Wohlfühlzone an

Laktat entsteht bei jeder Form der Bewegung, wird aber beim Training in der Wohlfühlzone sofort wieder verstoffwechselt. Erst wenn wir hochtourig fahren, produziert der Körper bei der Energiegewinnung so viel Milchsäure, dass sie nicht mehr während der Tätigkeit abgebaut werden kann. Das ist Fluch und Segen zugleich. Denn während einerseits Laktat anfällt, das der Körper gut zur Energiegewinnung verwenden kann, verhindern Wasserstoffionen der Milchsäure genau dies. Das Ende vom Lied: Der Körper kann nicht mehr.

Das ist der Moment, wenn es anfängt wehzutun. Das ist der „Ich kann nicht mehr“-Schmerz. Zu erkennen ist er daran, dass der Körper plötzlich zu sprechen beginnt und aus einem bislang unbekannten Reservoir an Schimpfwörtern schöpft. Damit wir auch wirklich verstehen, was er meint, greift der leidende Leib zu folgenden Stilmitteln: Kotzreiz, brennende Lungen, brennende Muskeln, angedeuteter Schwindel, Leere im Kopf (bis auf eine Stimme, die dir „Aufhören!!!“ ins innere Ohr brüllt).

Warum 400-Meter-Läufer echte Helden sind

Das kann der Körper ungefähr 30 Sekunden lang, wenn nicht Physis und Psyche entsprechend trainiert sind. Daher sind die echten Helden der Leichtathletik nicht die Marathonis, sondern 400-Meter-Läufer. Die brauchen für eine Stadionrunde zwar weniger als 50 Sekunden, aber dennoch mindestens 15 Sekunden länger als es eigentlich möglich ist.

Während es in dir also so schön brüllt und brennt und du dich so richtig scheiße fühlst, wird dein Körper mit Laktat überschwemmt.

Das kann ganz schnell gehen, etwa mit Bergsprints. Einfach mal einen Kilometer einlaufen, ein bisschen Lauf-ABC machen und dann 8×50 Meter mit voller Power bergauf sprinten, zwischen den Sprints ein Päuschen, das den Namen nicht verdient hat, also 15 bis 30 Sekunden. Wenn im fünften Intervall allmählich die Lichter ausgehen, ist das nicht nur ein sicheres Zeichen dafür, dass der Regler der Laktatdusche voll aufgedreht ist. Zusätzlich beginnt jetzt auch noch eine Gratis-Lektion zur Bildung eines eisernen Willens.

Laktat und Stolz – eine gute Mischung

Wer jetzt noch drei Durchgänge schafft, lernt sich ganz neu kennen. Dem Laktat wird in wachsender Dosis Stolz beigemischt, der sich nach dem achten, dem finalen Durchgang vollends Bahn bricht. Jetzt wird’s echt schön.

Du hast gerade den achten Bergsprint geschafft. Die Beine brennen, die Lunge existiert nicht mehr, das Herz schlägt bis zum Hals, der Magen würde dir gerne das Frühstück präsentieren. Auf dem Weg bergab sammelst du deine verlorenen Organe ein. Leere im Körper.

Schlafen wäre jetzt schön

Jetzt bloß nicht hinsetzen! Ja, ich weiß, Bewegung ist so ziemlich das Letzte, was du jetzt brauchst. Bei jedem Schritt wollen die Knie einfach wegklappen. Ein Schläfchen wäre jetzt schön.

Aber du weißt es besser und walkst ein bisschen. Und jetzt kommt DER MOMENT.

Das Schmerzorchester spielt groß auf

Nichts fühlt sich so toll an wie ein nachlassender Schmerz. Da momentan ein ganzes Schmerzorchester in dir aufspielt, kannst du dich auf ein krachendes Crescendo freuen, dass sich mit einem Schlag in ein unfassbar wohliges Gefühl auflösen wird. Hört euch mal Beethovens Neunte an (die Stelle „Und der Cherub steht vor Gott“) oder den Orchester-Orgasmus in „A day in the life“ von den Beatles.


Es ist, als ob jemand mit einem Schlag ein Fenster öffnet und den Körper mit Sauerstoff flutet. Das Brennen lässt nach, der Pudding weicht aus den Beinen, du kannst wieder ein bisschen schneller gehen, vielleicht sogar traben.

Merk dir dieses Gefühl und freue dich darauf, wenn im Trainingsplan wieder Intervalle stehen.

Laktat schult die Ausdauer

Inzwischen hat die Forschung übrigens herausgefunden, dass Laktat wirken kann wie ein Höhentraining. Es veranlasst den Körper zu Anpassungen und steigert die Ausdauer. So haben selbst extrem kurze, aber extrem harte Einheiten einen Nutzen für die Ausdauer.

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