„Den letzten Kilometer laufe ich aber!“, denke ich, nachdem ich mich Kehre um Kehre, mal gehend, mal trabend, das Stilfser Joch hinaufgeschleppt habe. Denkste!
Ein Rückblick auf ein Rennen, das ich nie vergessen werde.
Im Vorfeld des Marathons am Stilfser Joch haben genügend Menschen versucht, mir meine Sorgen zu nehmen, von meinem Vereins-Kollegen Stefan (der im vorigen Jahr dabei war und in diesem Jahr spontan wieder am Start stand) über Peter vom Orga-Team (danke für das Bier!) bis zu Laufprofi Hermann Achmüller. Sie alle waren überzeugt, dass ich es schaffe. Nur ich hatte wie immer meine Zweifel.
15 Kilometer als Einführung
Das alles zählt jetzt nicht mehr. Um kurz nach acht Uhr fällt der Startschuss. „Schön langsam laufen“, lautet die Devise. Auf der 15 Kilometer langen Einführungsrunde durch den Ort Prad sammeln wir einfach nur die nötigen Meter, damit aus dem 27 Kilometer langen Aufstieg ein Marathon wird. Das Rennen kann man hier nicht gewinnen, wohl aber verlieren.
Diese Einführungsrunde verläuft unspektakulär, streckenweise sogar ein bisschen langweilig. Das Terrain ist flach und bewegt sich im Bereich um die 900 Höhenmeter. Am Streckenrand weisen Schilder auf die Restkilometer hin – ungewohnt, aber so ein Countdown motiviert.
Mein ganz privates Baderitual
Dann geht es los! Pünktlich nach 15 Kilometern erwartet uns eine Verpflegungsstation, an der ich zum ersten Mal mein Baderitual für diesen Lauf vollziehen werde: Zwei Schwämme volltanken und anschließend über dem Kopf ausquetschen.
Und sofort nach der Verpflegung geht es bergauf. Fast nur noch bergauf. Die ersten Höhenmeter nehme ich noch mit dem Schwung, den ich von heimischen Läufen wie dem Ruhrklippenlauf gewohnt bin. Doch der Zahn wird mir bald gezogen und ich mache das, was um mich herum alle machen: Ich wandere.
Steile Wege – zu steil zum Laufen
Der Weg ist wirklich steil und laufend für Normalläufer nicht zu schaffen. Ich schlage einen schnellen Schritt an und nehme mir vor, den auch durchzuhalten. Dort, wo das Gelände flach oder abschüssig ist, laufe ich. Es fällt schwer, zu akzeptieren, dass das hier zwar ein Lauf ist, ein Großteil der Strecke aber wandernd oder walkend bewältigt wird. Einige meiner Mitläufer hadern denn auch mit der Strecke. Ich beschließe, einfach in einem Schritt zu gehen, der deutlich über meinem normalen Tempo liegt.
Dank der hervorragenden Organisation gibt es alle zwei Kilometer eine Verpflegungsstelle. Da es niemand von uns eilig hat, nutzen wir die kurzen Unterbrechungen ausgiebig – ich vollziehe immer wieder mein Baderitual.
Verpflegungsparty in Stilfs und die schlechteste Halbmarathon-Zeit aller Zeiten
Im Dörfchen Stilfs, auf 1300 Metern gelegen, also für unseren Marathon noch ganz, ganz weit unten, wartet auf uns nicht nur ein Verpflegungspunkt, sondern eine Verpflegungsparty. Hier befindet sich die Halbmarathon-Marke. Die Bewohner feiern uns mit Schlagermusik und bester Stimmung. Ich schaue auf die Uhr – 2:30 Stunden habe ich noch nie für einrn Halbmarathon benötigt. Aber ich nehme an, hier gelten mildernde Umstände.
Noch 21 Kilometer für 1400 Höhenmeter. Nach jedem Verpflegungsstand kehrt für kurze Zeit die Zuversicht zurück, wieder ein Stückchen laufen zu können. Doch das Gelände zeigt mir einen Vogel. Es ist Wandertag, und ich habe das zu akzeptieren. Die erfahrenen Trailläufer und Berg-Marathonis um mich herum bestätigen, dass sie bei Läufen wie diesem nur laufen, wenn der Weg es zulässt. Nichts erzwingen. Bei den Trainingsläufen in Hagen und Lennestadt war der Laufanteil wesentlich höher.
Aber dieser Weg lässt es wirklich so gut wie nirgends zu. Die kurzen Flach- oder Bergabstücke sind nur Intermezzi auf dem Weg nach oben. Allmählich nähern wir uns die Waldgrenze. Mein strammer Schritt hält. Die Zeit, die ich meinen Mitwanderern „abnehme“ (ein Wettkampf ist das hier wirklich nicht), vertrödele ich wieder durch Video- und Fotopausen. Der Weg ist einfach zu schön, um nicht festgehalten zu werden.
Nach der Waldgrenze kommt die Baumgrenze und dann wird’s echt spektakulär. Irgendwo pfeift ein Murmeltier und warnt seine Artgenossen vor der Gruppe verrückter Zweibeiner, die sich nähert. Doch uns interessiert eher das Panorama. Die Aussicht auf das von einem Eiszeitgletscher wunderbar geformte Tal ist atemberaubend. Über allem thront die Schneehaube des Ortler. Wir sind so weit oben und immer noch so weit weg vom Ziel.
Drei Kilometer und 300 Höhenmeter bergab
Kurz hinter einer weiteren Verpflegung kommt die Zehn-Kilometer-Markierung. Ich atme auf, denn ab jetzt – vermute ich – kann ich wieder laufen. Drei Kilometer lang müsste der Weg nun bergab führen. Tatsächlich! Ich trabe an und beschleunige auf einen Schritt, der sich wirklich wie echtes Laufen anfühlt.
In der rechten Wade deutet sich nach einigen Hundert Metern etwas an, das sich nach dem berühmten „Zumachen“ anfühlt. „Bloß nicht!“, denke ich. Passenderweise folgt ein kurzes Bergaufstück, auf dem der Muskel noch mal angedehnt wird. Dann geht es wieder runter. Richtig flott! Das tut so gut. Aus Geröllfeldern wird Lehmboden, wird Gras. Ein Schweizer hinter mir trauert: „Jetzt sind wir so schön bergauf gelaufen, klagt er, wohlwissend, dass wir die 300 Höhenmeter, die es jetzt bergab geht, später wieder aufgebrummt bekommen. „Ja, alles fürn Arsch“, lautet meine Antwort auf gut Ruhr-Deutsch.
Ich bin Papst und küsse den Boden
Wir laufen weiter und plötzlich ist es da: das graue Aspahltband des Stilfser Joch. Ich mache einen großen Schritt aus dem Gehölz heraus und habe wieder echten, festen Asphaltboden unter den Füßen. Ich gehe auf die Knie und küsse die von der Sonne aufgeheizte Straße. So hat sich also der Papst gefühlt. Ab jetzt kenne ich den Weg – gestern sind wir hier noch mit dem Auto hochgefahren.
Voller Freude trabe ich an, doch auch hier belehrt mich die Strecke schnell eines Besseren. Walking ist angesagt, doch immer wenn es die Straße hergibt, laufe ich. Sie gibt es selten her.
Sieben Kilometer aus der Hölle
24 Kehren sind es, 700 Höhenmeter, verteilt auf sieben Kilometer. Sieben Kilometer aus der Hölle, auch wenn sie Richtung Himmel führen. Radfahrer, die gerade die Abfahrt genießen oder sich den Aufstieg mit uns teilen, feuern uns mit „Bravo!“-Rufen an. Ich schalte einen Gang hoch und rennwandere nun die Straße hoch. Ich überhole immer wieder Marathonis und Teilnehmer der anderen Läufe.
Für die Kehren entwickele ich eine eigene Technik: Ich laufe ganz innen, wo die Straße eigentlich am steilsten ist. Doch statt eine Kurve zu gehen, steppe ich seitlich hoch und drehe mich dabei nur leicht auf dem Absatz. Das spart Meter und Kraft.
Der Anblick des Ortlers motiviert. Ebenso der Gedanke, dass irgendwo oben meine Frau Antonja steht und mich durch Fernglas und Teleobjektiv beobachtet. Nur der Blick die Serpentinen hinauf macht kaputt. Von oben sieht das Stilfser Joch toll aus, aber auch relativ harmlos. Wer jedoch auf der Straße gehend nach oben blickt, sieht nur eine senkrechte Wand. Aber was soll’s? Fünf Kilometer noch, verheißt eine Markierung auf dem Boden.
Der letzte Kilometer wird gelaufen – oder auch nicht
Ungefähr jetzt fasse ich den Gedanken, den letzten Kilometer laufend zu bestreiten. Kehre um Kehre arbeite ich mich nach oben. Noch drei Kilometer, mein Schritt ist immer noch flott. Ab und zu trabe ich, dann trödele ich wieder, um zu fotografieren und zu filmen. Ich hatte mir 6:30 Stunden als Ziel gesetzt. Meine Uhr prognostiziert 6:49. Auch gut.
Endlich erreiche ich die magische Marke – noch ein Kilometer. Ich laufe wieder an und höre sogleich wieder auf. Nichts zu machen, es ist einfach zu steil. Also weiter marschieren. Nächster Plan: Ich werde das Ziel auf jeden Fall, komme, was da wolle, laufend erreichen. Walking ist keine Option. Das ist ein Lauf, da wird gelaufen. Ja, aber jetzt noch nicht.
Die letzte Kehre sorgt für Euphorie
Kehre Nummer 1! Gelegenheit für ein Selfie. Ab jetzt gibt es nur noch Kurven und Geraden. Aber auch die führen bergauf. Kurz euphorisiert laufe ich ein paar Meter und höre ebenso schnell wieder auf. Die Oberschenkel halten mich für verrückt. In der Innenseite einer Kurve steht eine Gruppe Italiener. Ich wetze auf sie zu und mache mit einem Grinsen im Gesicht „kscht-kscht“ und mit den Armen eine Scheuchbewegung. Sie verstehen und machen – ebenfalls grinsend – Platz, garniert mit einem „Bravo!“.
„100 Meter“, verkündet eine Aufschrift auf dem Boden. Ein Sprint, ein kurzer Sprint! Nein. Eine Gruppe schaut mich an und sieht meinen vergeblichen Versuch, das Tempo anzuziehen. „Ey, 90 Meter nur! Das is doch nix!“, rufe ich ihnen verzweifelt zu. „Auf geht’s!“, rufen sie und schicken mich mit Applaus Richtung Passhöhe.
Die Passhöhe am Stilfser Joch ist ungefähr so gemütlich wie Helgoland zur Mittagszeit. Es wuselt und wuselt. Genau das brauche ich jetzt. Ich erspähe das kurvige Spalier des Zieleinlaufs. Dass es bergauf geht, interessiert meine Beine plötzlich nicht mehr. Ich laufe, gefühlt renne ich!
Beinahe den Zieleinlauf verpasst
Fast renne ich am Zieleinlauf vorbei, weil zwei Streckenposten seltsam im Weg stehen. Mit einem Haken finde ich auf den richtigen Weg und, naja, stürme weiter. Antonja steht vor Kopf und filmt, ich filme auch. Eine Kurve noch, dann sehe ich den Zielbogen und höre, wie der Streckensprecher meinen Namen ruft. Mit einem Juchzer renne ich über die Zeitmatte und ehe ich mich versehe, hängt eine Medaille um meinen Hals.
Geschafft! Tonnenweise fällt Ballast von mir ab. Hinter meiner Sonnenbrille bahnen sich Tränen ihren Weg. Am liebsten würde ich jetzt einfach nur heulen und jubelnd die Welt umarmen. Erleichterung und Glückseligkeit, aber auch Leere machen sich breit.
Das Stilfser Joch und die Zweifel besiegt – Pause machen
Ich habe das Stilfser Joch besiegt. Ich habe die Zweifel und die Zweifler besiegt. Ich habe eine neue Erfahrung gemacht, die mich für immer bereichern wird. Ich habe gelernt, dass ich noch lange nicht das Ende der Fahnenstange erreicht habe. Der alte Mann kann noch Sachen machen. Mit 46 Jahren habe ich den Stilfser-Joch-Marathon geschafft. Jetzt, einen Tag später und ein Jahr älter, habe ich nicht mal Muskelkater. Da geht also noch was.
Aber jetzt ist erst mal Pause. Das Erlebnis will in Ruhe verarbeitet werden.
Update: Alle guten Wünsche für meine Wegbegleiter
Last but not least möchte ich einige Menschen grüßen, die mich unterwegs begleitet haben.
Danke, Herr Bergmann aus Hohenlimburg. Wir haben uns nett unterhaltenen waren uns einig, dass Hagen hässlich ist. Glückwunsch zu deinem Finish und viel Spaß bei deinen nächsten Radtouren.
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Danke, unbekannter Werder-Fan aus Gifhorn, dass du über lange Strecken das nervige Geräusch meines Trinkrucksack ertragen und mir eine kurze Unterhaltung über Fußball ermöglicht hast. Dass du mir am Ende 19 Minuten abgenommen hast, nehme ich dir nicht übel. ?
Ich hoffe, dass der Läufer, der schon bei km 17 (?) mit weiß umrandeten Lippen ziemlich am Ende wirkte, entweder gut ins Ziel gekommen ist oder den Lauf irgendwie gut überstanden hat. Von meinem Trinkrucksack wolltest du nicht nuckeln, du wirktest später aber auch wieder ein bisschen fitter.
Und, hey, englischsprachiger Kollege, der du ungefähr bei km 40 lang ausgestreckt auf der Straße lagst: Ich habe dich nach mir ins Ziel kommen sehen und habe mich echt gefreut. Schön, dass ich dir auf der Straße aufhelfen durfte. Dein Ausspruch, dass es dir eng ums Herz sei, hatte in mir die Alarmglocken schrillen lassen. Aber die Erklärung mit dem Brustgurt (das gleiche nervige Modell habe ich auch jahrelang benutzt) klang für mich plausibel. Super, dass du es geschafft hast!
Immer wieder schön zu lesen, mein Lieber Sohn.